Welt im Kopf

Tage mit Herbert

Damals war ich glücklich. Nicht pausenlos. Aber genug.
Genug, um nichts zu vermissen.

Glückliche Tage sind auf irgendeine Weise alle gleich. Wie die Gänseblümchen auf der Wiese. Die Wiese hinter meinem Haus ist voller Gänseblümchen. Die Unterschiede bestehen in den ausgerissenen Blütenblättern. In den zertretenen Stängeln. Schmerz ist mit seltsamer Beständigkeit einzigartig.

Herbert arbeitete in einem kleinen Schuhgeschäft. Er konnte Absätze reparieren und neue Sohlen anpassen. Aber im wesentlichen beriet er die Kunden.
"Das ist wichtig" sagte er immer. "Der Schuh trägt alles. Es ist wichtig, dass er gut ist und dass er wirklich passt." Er war ärgerlich über Frauen, die ihre Füße in Formen pressen wollten, die nicht zu ihnen passten. Dennoch war er kein Freund von orthopädischen Schnürschuhen.

"Ein gesunder Fuß braucht Begleitung, kein Korsett" sagte er. Und es war glaubwürdig.

Zwei Straßen weiter half ich in einem Fotoladen. Es war eine schöne Stimmung. Die Menschen kamen mit Urlaubsbildern, mit Hochzeitserinnerungen. Sie kamen mit Vorfreude und mit erwartungsseliger Sehnsucht nach vergangenen Tagen. Viele kamen auch, um sich Passbilder machen zu lassen. Frisch gestylt, mit einem Hauch Make-up. Gelegentlich auch achtlos mit fettigen Haaren. Der Pass. Der Führerschein. Die Bewerbung. Manchmal war Eile wichtiger als Schönheit. Aber alle starrten mit Neugier auf das Ergebnis. Alle hofften sie auf irgend etwas. Hofften auf Komplimente. Und immer erschraken sie. Erschraken über die Begegnung mit ihrem Gesicht. Sie bezahlten schnell. Wenn sie den Laden verlassen hatten blieben sie gleich wieder stehen. Sie holten die Bilder noch einmal aus der Tasche. Durch die Glastür konnte ich es sehen. Sehen, wie sie da standen und ihr Gesicht erforschten. Fotos tragen das Image von Realität. Wir erwarten auf den kleinen Papieren die dosierte Wirklichkeit. Deswegen die Erschütterung. Erschütterung über die Wahrheit. Niemand bemerkt, dass es doch nur Bilder sind. Bilder der Realität. Bilder mit allen ihren Unwägbarkeiten. Bilder, die nichts sind als Blickwinkel, als Mosaiksteine.
So wie alles.

Mittags trafen wir uns manchmal auf einen Kaffee. Herbert und ich. Manchmal aß er ein Sandwich. Ich nahm einen Salat. Oder ein Stück Kuchen. Er erzählte von den Schuhen. Ich sprach von den Bildern. Schließlich ging ich gestärkt und beschützt. Und er ging mit einem Kopf voller Bilder.

Abends waren wir meistens zur gleichen Zeit zu Hause. Manchmal war er ein paar Minuten früher. Manchmal ich. Wir kochten auf dem alten Gasherd und aßen an dem Holztisch in der Küche. Irgendjemand spülte danach das Geschirr. Manchmal er. Manchmal ich. Es gab keine Diskussion darüber. Die Notwendigkeiten geschahen wie die Strömung an einem Fluss. Später zogen wir uns zurück. Jeder für sich. Und doch miteinander.
Wenn ich mich jetzt erinnere, dann sind es diese Stunden. Diese Stille, die keine Worte hatte. Und dennoch so voll war, das sie überlief.

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Verena Liebers